BGH kippt 285 Mio. €-Vergleich: Formfehler bei VW-Hauptversammlung im Dieselskandal
30. September 2025

Zusammenfassung
- BGH kippt 285 Mio. €-Vergleich wegen unvollständiger Tagesordnung - Verzicht auf Organhaftung muss explizit in Tagesordnung stehen, nicht nur in Begleitberichten
- Bei komplexen Beschlüssen alle zustimmungsbedürftigen Elemente direkt in Tagesordnung aufnehmen - nicht auf Berichte verweisen
- Aktionärsfragen vollständig beantworten: Wer wirtschaftliche Argumente anführt (z.B. mangelnde Leistungsfähigkeit), muss konkrete Zahlen liefern - pauschale Angaben reichen nicht
Der Bundesgerichtshof hat mit Urteil vom 30. September 2025 (II ZR 154/23) einen bedeutenden Deckungsvergleich der Volkswagen AG im Dieselskandal für nichtig erklärt. Die Entscheidung zeigt eindrucksvoll, wie wichtig eine präzise Vorbereitung und rechtssichere Durchführung von Hauptversammlungen ist – gerade wenn es um existenzielle Unternehmensentscheidungen geht.
Wichtiger Hinweis: Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrags lag nur die Pressemitteilung des BGH-Urteils vor. Die Erwägungen des Gerichts gehen daraus bislang nur skizzenhaft hervor. Der Volltext der Entscheidung darf mit Spannung erwartet werden, da sich hieraus voraussichtlich noch deutlich mehr Klarheit zu den Anforderungen an den Informationsumfang der Tagesordnung ergeben wird.
Der Fall: Vergleiche über 285 Millionen Euro
Im Juni 2021 schloss Volkswagen Haftungsvergleiche mit zwei ehemaligen Vorstandsmitgliedern sowie einen Deckungsvergleich mit D&O-Versicherern zur Abgeltung möglicher Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Dieselskandal. Die Vergleiche sahen vor:
- Eigenbeiträge der ehemaligen Vorstandsmitglieder: 11,2 Mio. € bzw. 4,1 Mio. €
- Zahlungen der D&O-Versicherer: rund 285 Mio. €
- Freistellung der Vorstandsmitglieder von Drittansprüchen durch VW
- Verzicht auf Inanspruchnahme sämtlicher weiterer ehemaliger und amtierender Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder
Die Hauptversammlung stimmte den Vergleichen am 22. Juli 2021 mit über 99% Mehrheit zu. Kapitalanlegerschutzvereinigungen fochten die Beschlüsse dennoch erfolgreich an.
Die Instanzen: Vom Erfolg für VW zur Aufhebung durch den BGH
Das Landgericht Hannover und das OLG Celle wiesen die Klagen vollständig ab und sahen die Beschlüsse als wirksam an. Das OLG Celle vertrat die Auffassung, dass die Bekanntmachung der Tagesordnung den gesetzlichen Anforderungen genügte, der wesentliche Inhalt der Vergleiche ordnungsgemäß bekannt gemacht wurde und keine Verletzung des Auskunftsrechts vorlag.
Der BGH sah dies grundlegend anders und hob die Entscheidung teilweise auf – mit weitreichenden Konsequenzen für die Praxis.
Formfehler Nr. 1: Verstoß gegen § 121 Abs. 3 Satz 2 AktG
Was war das Problem?
Der BGH erklärte den Beschluss über den Deckungsvergleich wegen eines formellen Fehlers für nichtig. Die Tagesordnung habe nicht den Anforderungen des § 121 Abs. 3 Satz 2 AktG entsprochen.
Der entscheidende Punkt: In der Tagesordnung wurde nicht mitgeteilt, dass mit dem Deckungsvergleich ein Verzicht gegenüber sämtlichen amtierenden und ausgeschiedenen Organmitgliedern verbunden war, der nach § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG bzw. § 117 Abs. 4, § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG der Zustimmung der Hauptversammlung bedurfte.
Warum reichte der Bericht des Vorstands nicht aus?
Volkswagen hatte die entsprechenden Informationen durchaus erteilt – allerdings nur im Bericht des Vorstands, nicht in der Tagesordnung selbst. Der BGH stellte laut Pressemitteilung klar: Die diesbezüglichen Angaben im Bericht des Vorstands genügen nicht, da sie nicht mehr Teil der in der Einberufung angegebenen Tagesordnung waren.
Die Begründung: Der durchschnittliche Aktionär musste nicht damit rechnen, dass die Informationen zu einer Beschlussfassung über einen Verzicht gegenüber einer Vielzahl weiterer Organmitglieder in den weiteren Informationen zu den betreffenden Tagesordnungspunkten enthalten waren.
Die systematische Unterscheidung: Tagesordnung vs. Beschlussvorschläge
Das Gesetz unterscheidet zwischen:
- der Tagesordnung (§ 121 Abs. 3 S. 2), die den Rahmen für mögliche Beschlüsse bildet
- den Beschlussvorschlägen der Verwaltung (§ 124 Abs. 3), die diesen Rahmen nicht ausschöpfen
Die Tagesordnung muss für sich genommen so klar sein, dass Aktionäre erkennen können, welche Entscheidungen von grundlegender Bedeutung anstehen. Ein Verzicht auf Organhaftungsansprüche gegenüber sämtlichen Organmitgliedern ist ein solcher wesentlicher Punkt, der bereits in der Tagesordnung selbst erkennbar sein muss – nicht erst in begleitenden Berichten.
Was der Volltext klären wird
Die Pressemitteilung lässt zentrale Detailfragen offen, zu denen der Volltext voraussichtlich Klarheit schaffen wird:
- Wo genau verläuft die Grenze zwischen Tagesordnung und "weiteren Informationen"?
- Welche Angaben müssen zwingend in der Tagesordnung selbst stehen, welche dürfen in Begleitberichten erfolgen?
- Wie wirkt sich die Bezugnahme der Tagesordnung auf den Hauptversammlungsbericht aus?
- Welche Anforderungen gelten an die "hinreichende inhaltliche Fixierung" bei komplexen Vertragswerken?
Formfehler Nr. 2: Verletzung des Fragerechts nach § 1 Abs. 2 COVMG a.F.
Die Ausgangssituation
Bezüglich der Haftungsvergleiche hob der BGH die Entscheidung des OLG auf und verwies zurück. Das OLG hatte die Anfechtbarkeit wegen einer Verletzung des Fragerechts verneint – zu Unrecht, wie der BGH befand.
Im Bericht des Aufsichtsrats und Vorstands wurde als wesentlicher Grund für die Vergleiche angegeben, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit der in Anspruch genommenen Personen auch unter Berücksichtigung der Versicherungssumme bei weitem nicht die diesen Personen zurechenbaren Schäden erreiche.
Was das OLG Celle argumentierte
Das OLG hatte die Auffassung vertreten, dass Auskünfte zu den Vermögensverhältnissen der ehemaligen Vorstandsmitglieder nicht "wesentlich" für die Entscheidung seien, da:
- es nicht Aufgabe der Aktionäre sei, Fehlverhalten von Organmitgliedern zu prüfen
- die Aktionäre nur über den konkret unterbreiteten Vertragstext abstimmen sollten
- wirtschaftliche Erwägungen hinreichend dargelegt worden seien
Die Korrektur durch den BGH
Der BGH sah dies nach der Pressemitteilung grundlegend anders: Auskünfte zur Vermögenslage der ehemaligen Vorstandsmitglieder waren zumindest insoweit erforderlich, als es darum ging, die Beurteilung der Gesellschaft über deren finanzielle Leistungsfähigkeit nachzuvollziehen.
Die erteilten Auskünfte – insbesondere zu bezogenen Einkommen – genügten nicht, weil sich daraus nicht erschließe, in welchem Umfang etwaige Haftungsansprüche durch eigenes Vermögen der ehemaligen Vorstandsmitglieder gedeckt gewesen wären.
Die rechtliche Einordnung: § 243 Abs. 4 Satz 1 AktG
Nach dieser Vorschrift kann wegen unrichtiger, unvollständiger oder verweigerter Erteilung von Informationen nur angefochten werden, wenn ein objektiv urteilender Aktionär die Erteilung der Information als wesentliche Voraussetzung für die sachgerechte Wahrnehmung seiner Teilnahme- und Mitgliedschaftsrechte angesehen hätte.
Der BGH macht deutlich: Wenn die Gesellschaft selbst die mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit als Hauptargument für den Vergleichsschluss anführt, müssen die Aktionäre diese Einschätzung anhand konkreter Informationen nachvollziehen können. Pauschale Angaben zu Gehältern reichen hierfür nicht aus.
Offene Fragen für den Volltext
Auch hier lässt die Pressemitteilung wichtige Fragen offen:
- Welche konkreten Vermögensinformationen hätten erteilt werden müssen?
- Wie weit reicht die Ermittlungspflicht der Gesellschaft bezüglich Vermögensverhältnissen von Organmitgliedern?
- Welche Grenzen bestehen bei der Auskunftserteilung (Datenschutz, Persönlichkeitsrechte)?
- Wie detailliert müssen wirtschaftliche Begründungen für Vergleichsschlüsse dargelegt werden?
Was vom erstinstanzlichen Urteil Bestand hatte
Der BGH bestätigte ausdrücklich, dass die Beschlüsse nicht nichtig waren wegen:
- § 57 Abs. 1 AktG (Verbot der Einlagenrückgewähr): Die Vergleiche stellen keine verdeckte Einlagenrückgewähr dar, da sie eine wirtschaftliche Rechtfertigung im Unternehmensinteresse hatten.
- § 93 Abs. 4 Satz 3 AktG (Sperrfrist): Die dreijährige Sperrfrist wurde eingehalten, da die Vergleiche alle Ansprüche ausnahmen, deren Entstehung weniger als drei Jahre zurücklag.
Praktische Konsequenzen für Aktiengesellschaften
1. Transparenz in der Tagesordnung
Die Entscheidung zeigt: Die Tagesordnung muss alle wesentlichen Beschlussgegenstände klar benennen. Es reicht nicht aus, Details nur in Begleitberichten zu erläutern. Wenn ein Beschluss mehrere zustimmungsbedürftige Elemente enthält (hier: Deckungsvergleich + Verzicht gegenüber allen Organmitgliedern), müssen alle bereits in der Tagesordnung erkennbar sein.
Empfehlung: Bis zum Vorliegen des Volltexts sollten Gesellschaften bei der Formulierung von Tagesordnungspunkten äußerst vorsichtig sein und im Zweifel mehr Informationen in die Tagesordnung selbst aufnehmen, statt sich auf Begleitberichte zu verlassen.
2. Vollständige Beantwortung von Aktionärsfragen
Wenn die Gesellschaft bestimmte Argumente zur Begründung eines Beschlusses anführt (hier: mangelnde finanzielle Leistungsfähigkeit), muss sie den Aktionären ermöglichen, diese Argumente anhand konkreter Informationen zu überprüfen. Halbherzige Auskünfte reichen nicht aus.
Empfehlung: Die vollständige Urteilsbegründung wird zeigen, welche Informationstiefe genau erforderlich ist. Gesellschaften sollten die Entscheidung sorgfältig auswerten, sobald sie vorliegt.
3. Die immensen Kosten von Formfehlern
Volkswagen muss nun neue Verhandlungen führen und riskiert, dass die Vertragspartner nicht mehr zu denselben Konditionen bereit sind. Die aufschiebenden Bedingungen der ursprünglichen Verträge sind längst verstrichen (31.12.2021). Ein Formfehler bei der Hauptversammlungseinberufung kann Vergleiche über mehrere hundert Millionen Euro zunichte machen.
Bedeutung für börsennotierte und nicht-börsennotierte Aktiengesellschaften
Die Entscheidung betrifft nicht nur börsennotierte Gesellschaften. Auch nicht-börsennotierte Aktiengesellschaften müssen die Anforderungen an Einberufung und Durchführung von Hauptversammlungen strikt beachten – insbesondere wenn es um existenzielle Beschlüsse wie Verzichte auf Organhaftungsansprüche geht.
Die zentrale Lehre: Bei Hauptversammlungsbeschlüssen über Vergleiche in Millionenhöhe kommt es auf jedes Detail an. Formfehler bei der Einberufung und Durchführung können selbst bei 99%iger Zustimmung zur Nichtigkeit von Beschlüssen führen.
So unterstützt Solving Legal bei Hauptversammlungen
Solving Legal berät börsennotierte und nicht-börsennotierte Aktiengesellschaften umfassend bei der Vorbereitung und Durchführung von Hauptversammlungen. Unsere Leistungen umfassen:
- Prüfung und Formulierung von Tagesordnungen auf Rechtssicherheit
- Gestaltung von Beschlussvorschlägen und Informationsmaterialien
- Begleitung bei der ordnungsgemäßen Beantwortung von Aktionärsfragen
- Vorbereitung und Durchführung von virtuellen und Präsenz-Hauptversammlungen
- Beratung bei komplexen Beschlussgegenständen (Organhaftung, Unternehmensverträge, Strukturmaßnahmen)
Gerade angesichts der zu erwartenden weiteren Konkretisierungen durch den BGH-Volltext ist eine sorgfältige rechtliche Begleitung unerlässlich. Die VW-Entscheidung zeigt eindrucksvoll: Selbst bei milliardenschweren Unternehmen mit professioneller Rechtsabteilung können Formfehler passieren, die hunderte Millionen Euro kosten.
Kontaktieren Sie uns für eine rechtssichere Gestaltung Ihrer Hauptversammlung und vermeiden Sie kostspielige Formfehler von vornherein.
Fazit
Der Fall Volkswagen ist ein Lehrstück über die Bedeutung formaler Korrektheit bei Hauptversammlungen. Zwei zentrale Erkenntnisse:
- Die Tagesordnung muss alle wesentlichen Beschlussgegenstände klar und vollständig benennen – Verweise auf Begleitberichte reichen nicht aus.
- Wenn die Gesellschaft bestimmte wirtschaftliche Argumente für einen Beschluss anführt, müssen Aktionäre diese anhand konkreter Informationen nachvollziehen können.
Der Volltext der Entscheidung wird mit Spannung erwartet und dürfte die Praxis der Hauptversammlungsvorbereitung nachhaltig beeinflussen. Bis dahin gilt: Im Zweifel lieber zu viel als zu wenig Information in der Tagesordnung – und bei komplexen Beschlüssen unbedingt fachkundige Beratung einholen.